Reaktivierte Krebszellen nach Virusinfektion im Lungengewebe
Reaktivierte Krebszellen nach Virusinfektion im Lungengewebe, Foto: Pixabay

Infektionen der Atemwege wie Grippe oder Corona können bei Krebspatienten gefährliche Prozesse im Körper aktivieren. Forschende haben herausgefunden, dass Viren Entzündungsreaktionen auslösen, die ruhende Krebszellen wieder aktivieren und damit Metastasen bilden können. Diese Erkenntnis liefert neue Hinweise darauf, warum viele Betroffene nicht am Primärtumor, sondern an den Folgen von Metastasen sterben.

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Shi Chia und das Team der Universität Colorado

Ein Forschungsteam um Shi Chia von der Universität Colorado in Boulder untersuchte, warum gestreute Krebszellen nach Jahren der Inaktivität plötzlich wieder aktiv werden. Unterstützt wurde die Gruppe von Julio Aguirre-Ghiso vom Albert-Einstein-College of Medicine in New York. Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass Signalstoffe in der Umgebung der Krebszellen und veränderte Immunzellen bei der Reaktivierung eine Rolle spielen.

Während der Corona-Pandemie fiel auf, dass die Zahl der Krebstoten in mehreren Ländern anstieg. Das weckte den Verdacht, dass Atemwegsinfektionen – insbesondere durch SARS-CoV-2 oder Influenzaviren – den stillen Prozess des Metastasenwachstums anregen könnten. Die Forschenden vermuteten, dass Entzündungen im Körper ruhende Krebszellen aus dem Gleichgewicht bringen.

Versuch mit Mäusen und Atemwegsviren

Um diese Annahme zu prüfen, infizierten die Wissenschaftler Mäuse mit Brustkrebs und ruhenden Lungenmetastasen mit Grippe- oder SARS-CoV-2-Viren. Eine zweite Gruppe gesunder Tiere diente als Kontrolle. Bereits nach wenigen Tagen beobachteten sie eine deutliche Zunahme der Krebszellen in der Lunge.

  • Zwischen dem 3. und 15. Tag nach der Infektion stieg die Metastasenlast um das 100- bis 1000-Fache.
  • Die neu entstandenen Zellen waren Abkömmlinge der zuvor inaktiven Tumorzellen.

Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Virusinfektionen ruhende Krebszellen aktivieren und dadurch Metastasen fördern können. James DeGregori, Seniorautor der Studie, verglich den Prozess mit einem Lagerfeuer: Die ruhenden Krebszellen seien wie Glut, die durch den „Wind“ der Infektion wieder zu Flammen aufflammt.

Interleukin-6 als Schlüsselfaktor

Weitere Analysen zeigten, dass infizierte Lungenzellen große Mengen des Entzündungsstoffs Interleukin-6 (IL-6) freisetzen. Dieses Molekül löst eine Reaktionskaskade in den schlafenden Krebszellen aus, wodurch sie sich erneut teilen und Metastasen bilden.

Interessanterweise wuchs die Zahl der aktivierten Krebszellen auch Monate nach der Infektion weiter an. Das deutet auf zusätzliche Mechanismen hin. Laut den Forschern sind auch umprogrammierte Immunzellen beteiligt: T-Helferzellen (CD4+) hemmen T-Killerzellen, die normalerweise Krebszellen zerstören würden. So entsteht eine Umgebung, die das Tumorwachstum begünstigt.

Daten aus den USA und Großbritannien

Um die Ergebnisse aus den Tierversuchen auf den Menschen zu übertragen, analysierte das Team um Shi Chia epidemiologische Daten aus dem Jahr 2020. In die Untersuchung flossen Informationen von 35 000 Brustkrebspatientinnen in den USA und 4 800 Krebspatienten in Großbritannien ein.

Die Sterblichkeit war fast doppelt so hoch bei denjenigen, die während einer Corona-Infektion behandelt wurden, verglichen mit nicht infizierten Patienten. Außerdem entwickelten Brustkrebspatientinnen nach einer Corona-Infektion 50 % häufiger Lungenmetastasen.

Diese statistischen Zusammenhänge stützen die Laborergebnisse. Infektionen der Atemwege erhöhen das Risiko, dass ruhende Krebszellen in der Lunge wieder aktiv werden. Roel Vermeulen von der Universität Utrecht erklärte, dass Überlebende nach Atemwegsinfektionen besonders gefährdet sein könnten, erneut Metastasen zu entwickeln.

Neue Ansätze für die Therapie

Die Studie liefert wertvolle Einblicke in die Verbindung zwischen Virusinfektionen und Metastasenbildung. Forscher sehen in den Ergebnissen auch einen therapeutischen Ansatz. Die Hemmung von Interleukin-6 oder der Einsatz gezielter Immuntherapien könnte den Prozess des Wiederaufwachens gestreuter Krebszellen stoppen oder verlangsamen.

Medikamente, die auf diesen Mechanismus abzielen, könnten künftig das Risiko für Metastasen nach Infektionen deutlich senken. Damit eröffnen sich neue Wege, um die Überlebenschancen von Krebspatienten langfristig zu verbessern.

Die Erkenntnisse von Shi Chia, Julio Aguirre-Ghiso und James DeGregori zeigen, dass selbst eine scheinbar harmlose Virusinfektion schwerwiegende Folgen für Krebspatienten haben kann. Ihre Arbeit verdeutlicht die Bedeutung der Immunforschung für die Onkologie und könnte entscheidend zur Entwicklung präventiver Therapien beitragen.

Quelle: STUTTGARTER ZEITUNG